Ich liebe meine Hauptcharaktere allesamt. Manche mehr, manche weniger, einige habe ich absichtlich so geschrieben, dass ich sie nicht allzu sehr lieben kann.
So weit mein Wissensstand reicht, können Menschen sich nichts völlig Neues erdenken. Es gibt immer Ansatzpunkte, Einzelteile, die bekannt sind, aus denen Neues entsteht. Das mache ich bewusst. Mir fällt im Normalfall sehr schnell auf, woher ich Charakterzüge nehme und wieso ich sie wie verändere.
Und dann steht da plötzlich ein Mann, den ich glaubte erschaffen zu haben, vor mir und sagt: “Wen verarbeitest du da gerade, mh? Das kannst du machen, ich nehme es nicht persönlich, aber dann zieh’s auch durch.” Er betont die letzten drei Worte. Ich kann meine eigene Stimme raushören und bin viel zu entsetzt darüber, dass er mich direkt anspricht, um sofort zu bemerken, dass er exakt so schlagfertig und direkt ist, wie ich es mir von mir selbst dauernd wünsche. Das fällt mir später auf, während er neben mir sitzt und zusieht, wie ich an ihm feile, ihm jenes nehme und jenes gebe. Als ich mich entschließe, Feigheit in Zurückhaltung abzuwandeln, bedankt er sich grinsend. Ich fasse mir an den Kopf. Was für eine total abwegige Situation.
Uns gegenüber sitzt ziemlich real mein Sohn, schaufelt “Dadida”-jauchzend einen Joghurt in sich hinein. Das Hintergrundgeräusch wird proudly presented von einem lieblos ausgewählten Lokalradiosender, mein Kaffee ist schon wieder leer. Wenn ich mir einen weiteren hole, kann es gut sein, dass der ungebetene Gast verschwunden ist, mich in Ruhe und einfach mal schreiben lässt. Um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, gehe ich zusätzlich noch eine rauchen. Besagter Charakter geht eiskalt mit. Dass er auch raucht, ist eine Erleichterung. Es macht die Ähnlichkeit zu mir größer, mit mir kann ich umgehen. Da wird mir klar, dass meine Entscheidung eigentlich anders ausgefallen war. Er zuckt mit den Schultern und macht die Zigarette aus. Anscheinend weiß ich noch nicht, mit wem ich mich eigentlich unterhalten will. So viele sind bisher in ihn eingeflossen, auf einen mehr kommt es da nicht mehr an.
Ich strecke meinen Rücken durch, weil er schmerzt, da verschwindet mein Gast auch schon, löst sich auf, taucht auf dem Monitor wieder auf, winkt kurz. Das ist kein Abschied für immer.
Ich entschließe mich nicht feige zu sein.