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Tag 50 – Zeit für Offenheit

Triggerwarnung: Gewalt

 

Hallo, mein Name ist Kia, und fünfzig ist eine so gewaltige Zahl, dass sie einen Titel bekommt.

Ich war heute einkaufen. Alleine. Normalerweise übernimmt das mein Partner, weil auch Kochen vorwiegend sein Metier ist. Aber heute dachte ich zum soundsovielten Mal, wage es, Kia. Überwinde dich. Denn die Masken und dieser allgegenwärtige Virus lösen etwas in mir aus. Ein Gefühl, dass sich auch in meinem Körper bemerkbar macht. Deutlich. Herzrasen. Atemnot. Ich singe Wir sind Helden gegen die Panik an. Laut. Ich ziehe mir die Maske über das Gesicht und lächle, auch mit den Augen, und lache, und bin freundlich und höflich und unterhalte mich nett. Das neue Small-Talk-nett eben. Das, das sich beinahe ausschließlich um Corona dreht, denn wir alle haben die Masken an. Und die ganze Zeit währenddessen fühlt sich meine Brust an als würde ich implodieren.

Es sind nicht die Masken. Ich habe dieses Gefühl schon seit über fünfzig Tagen. Wasche mir die Hände gründlich. Fasse mir nicht ins Gesicht. Es sind nicht die Masken.

Ich habe Panik, wilde rasende Angst davor erneut von diesem Gesundheitssystem abhängig zu werden. Erneut in eine Situation zu kommen, in der ich mich nicht wehren kann. So sehr, dass ich dabei vielleicht kränker werde. Denn ich war da schon, ausgeliefert. Und es ist nichts Gutes passiert. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit euch davon zu erzählen. Euch allen. Wer auch immer das lesen möchte.

Vorab: Ich habe seit einigen Jahren Multiple Sklerose und multiple Bandscheibenvorfälle. Ich bin durchgehend in Behandlung seit das bekannt ist, es gibt also Arztbriefe und Medikamentenvorgeschichte deswegen und so etwas. Nichts von dem, was mir passiert ist, geschah also aus Unwissenheit oder im luftleeren Raum.

Ich erzähle euch heute vier Dinge. Einmal von dem Orthopäden, der mich anschrie. Einmal von dem Notarzt, der mich nach Hause schickte. Einmal von dem Orthopäden, der mir nicht glaubte. Und einmal von dem Krankenhaus, in dem man mir Gewalt antat.

Erstens.

Beim dritten Versuch eine Behandlung von einem Orthopäden zu bekommen, rief ich nicht mehr an. Ich konnte nicht mehr warten bis jemand ans Telefon ging. Ich konnte nicht mehr Auto fahren. Ich lief zu Fuß, am Gehtstock, in die einzig erreichbare orthopädische Praxis. Ich kannte die schon, die hatten mich schon einmal nicht behandelt. Dort angekommen wollte die Medizinische Fachangestellte mich gleich wieder nach Hause schicken. Ich stützte mich auf ihrer Theke ab und heulte. Gerade halten konnte ich mich nicht. Ich sagte ihr, entweder hier und jetzt oder die Notaufnahme. Mehr Optionen hatte ich nicht mehr. Sie ließen mich warten. Lange. Heulend. Mit ganz vielen Menschen im Wartezimmer. Als ich endlich den Arzt traf, beteuerte ich ihm erneut verzweifelt, dass meine Schmerzen und meine Empfindungsausfälle keine Symptome der Multiplen Sklerose waren. Ich wusste das, ich hatte das längst neurologisch abklären lassen. Der Arzt behandelte mich nicht. Und beim Hinausgehen blieb er in der Tür stehen, dem einzigen Ausgang, durch den ich konnte. Er kam mir sehr nah, sah an mir herab, einen Kopf größer, dunkle, schmale  Augen und Brille, ich kann dieses Gesicht nicht vergessen. Er fauchte. Ein lautes Fauchen, das jeder mitkriegt, das bloßstellt. So viel Abwertung. So viel Lächerlichkeit. Er tat mich ab, mein Wissen und meine Schmerzen und meine Tränen. Und ich hatte keine Zeugen aus einer Medizinischen Fachangestellten, die schockiert aussah, aber mehr auch nicht.

Zweitens.

An dem Tag, an dem ein anderer Orthopäde mich mit den frischen MRT-Bildern eines massiven Bandscheibenvorfalls in die Schmerzklinik einwies, starb meine Großmutter. Mein Mann fuhr mich und meine acht Wochen alte Tochter in die Notaufnahme. Ich ging genau wie diese alte Frau, Monate vor ihrem Tod, im rechten Winkel, gestützt auf einen Stock, keuchend, heulend, schmerzverzerrt, neunundzwanzig Jahre alt. Der Notarzt war müde, das sah ich. Groß, müde, und außer uns niemand. Alles war still. Er untersuchte mich nicht. Er gab mir einen halben Blister starke Schmerzmittel, ohne mich auch nur anzufassen. Ich setzte mich nicht einmal hin. Er schickte mich so nach Hause. Ich weiß noch, dass ich mich fragte, ob er mich für medikamentenabhängig hielt. Ich suchte eine Erklärung. Ich war fassungslos. Ich habe ihn gefragt, wie es weitergeht, denn dass es so nicht geht, konnte er doch wohl sehen, nicht wahr? Zur Antwort bekam ich, ich könnte ja wiederkommen. Fünfundvierzig Minuten Fahrt, zwei Kinder. An dem Abend las eine Freundin mir über das Telefon stundenlang vor. Ich nickte manchmal weg, vollgepumpt mit Medikamenten, Schmerz- und Schlafmitteln, aber nie lang. Ich zerging vor Schmerz und Angst. Sie konnte für mich da sein, mir eine Freundin sein. Ich habe viele Freund*innen, die für mich da sind. Aber meinem Schmerz und meinem Körper nahm sich niemand an.

Drittens.

Natürlich war ich noch einmal ins Krankenhaus gefahren und bekam dann doch eine Schmerztherapie. Drei Wochen später war ich wieder dort. Mit denselben Symptomen. Der selbe Arzt, der diese Therapie geleitet hatte, der meine Akte und mein Gesicht gerade erst gesehen hatte, schüttelte über mich den Kopf. Das sei kein Bandscheibenvorfall. Der Therapie, der MRTs, der Diagnose zum Trotz. Das sei es nicht. Er hatte mich darauf behandelt und stritt es nun ab. Jetzt, da es so schlimm geworden war, verneinte er alles, was ich sagte. Als hätte ich gelogen über die Schmerzen und die Lähmungen. Zu diesem Zeitpunkt zog ich schon ein Bein nur noch hinter mir her. Gelähmt. Von der Hüfte abwärts. Ich fragte mich, ob er einfach nicht akzeptieren konnte, dass seine Behandlung nicht angeschlagen hatte.  Er suchte den Fehler bei mir. Einer Laie. Die immer geredet, gefragt und Hilfe gesucht hatte. Ich fragte mich, was ich falsch machte. Heute weiß ich, dass ich nicht schuld bin.

Ich habe die ganze Nacht geweint in der Klinik. Ich hatte solche Schmerzen. Am Morgen fragte mich eine Pflegefachkraft, wie es mir ginge und fragte mich ob der Schmerzen, warum ich nicht nach ihr geklingelt hätte. Das war ihre erste Reaktion. Stundenlang hatte ich den verschiedensten Menschen in dieser Klinik gesagt, wie groß meine Schmerzen waren, trotz der Medikamente.

Diese Pflegefachkraft blieb den ganzen Tag bei mir. Sie blieb, als die Lähmung in dem anderen Bein einsetzte. Sie blieb, als ich inkontinent wurde. Sie blieb, als man mich vor Schmerzen schreiend aus dem MRT zog. Sie blieb, als die Feuerwehr kam, um mich mit Blaulicht ins nächste CT zu bringen. Sie blieb, als der Neurochirurg kam, um mich sofort zu operien. Es war Freitag Abend. Und es war knapp.

Viertens.

Sie haben mich nicht gewaschen.

Ich lag sechs Tage lang in Blut, Jod, Schweiß und Lymphe. Mein Bett wurde nicht gemacht. Der Pfleger sagte, es gäbe keine Zeit, um mir beim Duschen zu helfen, und alleine dürfte ich nicht. Er sagte mir auch nicht, wo die Duschen waren. Ich fand es bis zu meiner Entlassung nicht heraus. Es gab da eine Zimmergenossin, die ganz stabil lief, und mir ihre Hilfe anbot. Ich weiß nicht mehr, warum sie nicht durfte. Zwei Praktikantinnen sollten mir die Haare waschen. Ich, halb gelähmt, mit einer großen, halb offenen Wunde am Rücken, unter starken Schmerzen, sollte mich kopfüber ins Waschbecken beugen. Ich versuchte es wirklich, schaffte es aber kaum. Am Ende juckte und brannte meine Kopfhaut immer noch, die Haare fettig und strähnig.

Ich versuchte mich mit einem Waschlappen zumindest intim zu reinigen. Immer während ich auf die Toilette ging, wartete draußen eine der Pflegerinnen. Beide Beine gelähmt, voller Schmerz. Ich schaffte es nicht, mich zu waschen. Ich stank. Ich war erschöpft und hatte Schmerzen nach den Versuchen mich zu waschen. Ich rock nach Urin. Und ich konnte mich allein kaum vollständig umziehen. Wenn ich es fertig gebracht hatte, waren die neuen Sachen sofort widerlich. Ich schlief schlecht, alles klebte an mir, die Bettwäsche klebte an mir, voller Flecken, voller Dreck, feucht. Und ich sah verzweifelt und neidisch zu, wie einer Zimmergenossin ausgiebig der Rücken geschrubbt wurde. Damit das Jod abging. Ich bat darum, das mein Jod auh abgewaschen wird. Ich war noch bei meiner Entlassung voller Jod. Und voller Blut. Die Reinigungskräfte, die Pflegekräfte, die Ärzteschaft, ich fragte sie alle nach Hilfe. Niemand half mir. Ich brüllte sie nicht an. Ich hätte es tun sollen. Ich hätte es jemand anderem sagen sollen. Aber das macht mich nicht schuldig, nicht wahr?

Ich war frisch operiert, gelähmt, voller Schmerzen, müde, hatte Angst und Sehnsucht nach meinen Kindern. Es war nicht meine Schuld und nicht meine Aufgabe.

Szenenwechsel.

Ich habe also viele Gründe, um vor diesem System Angst zu haben. Vor dem, was es mit den Menschen macht, die darin leben. Ich weiß nicht, warum das passiert ist, das alles. Ich weiß nur, dass es so ist. Und dass es diese Situation, diese Pandemie, für mich vielleicht noch einmal ganz anders macht.

In diesem Tagebucheintrag habe ich nicht von einem Tag erzählt, sondern von den schlimmsten Momenten in ein paar Jahren, die gar nicht so lange her sind. Und jetzt beende ich den Tag hoffentlich, indem ich mich traue, diesen Beitrag zu veröffentlichen. Dann gibt es noch eine heiße Schokolade und ein Buch.

Ich hoffe, es geht euch gut, und dass ihr durchkommt, egal, was ihr bisher erlebt habt, dass ihr euch keine Schuld gebt, oder wenn doch, dass ihr euch verzeiht.

Passt auf euch auf und gute Nacht.

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