Zum Inhalt

Reden.

Mittlerweile werde ich regelmäßig angerufen.

Alle zwei Wochen ruft die MS-Nurse an und fragt ganz schlicht, wie es mir geht. Es gibts nichts wichtigeres als jemanden, der fragt um zuzuhören. Ich kotze mich bei ihr aus. Über jeden Blutstropfen, jeden Muskelschmerz, jede Heulattacke. Ihre Anrufe erinnern mich daran, dass ich diese Scheiße nicht verdrängen kann und meine Seele mir nicht erlaubt es zu versuchen.

Helmut Dubiel schreibt

“Diese Identifikation mit meiner Krankheit hat zunächst zu tun mit ihrer Unheilbarkeit”,

und ich kann nicht mehr dazu sagen, als dass er recht hat.

Ich habe Multiple Sklerose. Und ich muss nicht noch einmal mehr sagen, dass das halt beschissen ist.

Trotzdem wiederhole ich es, als meine Betreuerin von Biogen anruft. Der All-inclusive Auskotz- & Aufklärungsservice des Pharmaunternehmens, das von meiner Krankenkasse jeden Monat 1.500 Ocken bekommt, damit es den Grad meiner Behinderung so lange wie möglich so weit unten wie möglich hält.
Kapitalismus, Baby.
Doch sie ist nicht Schema F. Ihre Erfahrung im Gespräch (Ich schlucke “mit Leuten wie mir” herunter) macht die Versatzstücke wett und ich habe das Gefühl, gerade lernt mich jemand kennen. Mich, meinen Alltag, meine Träume.
Während ich spreche, bemerke ich, dass all diese Dinge kaum auseinander liegen. Bemerke einmal mehr, was ich will und was nicht und rechtfertige mich nicht. Weil ich MS habe. Der Druck sich zu rechtfertigen sinkt, sobald du Teile deines Körpers nicht mehr spüren kannst und weißt: Das wird niemals besser. Es wird nur verfallen. Du wirst zerfallen. Es hat längst begonnen. Die Kraft in deinen Fingern lässt nach. Doch solange du in der grottigen Handschrift noch festhalten kannst, wie das ist. Solange bist du oben auf.

Solange stemme ich Gewichte, solange schreibe und singe ich und lache mit dem Kind.
Und solange werde ich darüber sprechen, wie es ist, wenn das Innerste, alles Menschliche, das Zentrale, das Gefühl, einfach flöten geht. Und wie es ist, wenn die Medikation, die das verhindert, versucht ein paar andere deiner Organe zu killen.
Es ist beschissen.
Das Hinzunehmen ist der 1. Schritt. Darauf zu scheißen ist dann Schritt 2.
Und darüber sprechen zu können, nur für mich selbst, ohne Mehrwert oder Fragen, das ist bereits ein paar Ecken weiter.

Published inJournal

Kommentare sind geschlossen.