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Angst ist schwierig.

Nach der letzten Schmerzepisode hatte ich fast vier Wochen Ruhe. Vor Schmerzen zumindest und das ist, was für mich zählt. Nur vorbei war es nicht.

Jedes Mal, wenn ich diesen Text anfange, erstarre ich schon nach einer halben Zeile. Wort für Wort muss ich erkämpfen, dabei habe ich schon so oft erzählt, was passiert ist. Sie kriegen Gänsehaut, wenn ich erzähle. Vielleicht, weil meine Stimme so zittert und weil meine Augen immer feucht werden und ich immer lächle, weil dieser Moment des Erzählens so großartig ist. Erzählen heißt, dass ich schon in einem Nachher bin. In einem _nicht mehr der schlimmste Tag_. Nicht mehr in lebensbedrohlich. Nicht mehr in Angst. Und doch heule ich schon wieder, im ersten Absatz. Dabei war es etwas, was viele haben, nur anscheinend nicht so massiv, so groß, so schlimm, so zeitkritisch. Das erzählen meine Mitpatientinnen bisher so.

Schließlich hatte ich einen ganz simplen Bandscheibenvorfall. Kennt man. Und ich wusste von dem Teil schon. Mein Problem war wohl am ehesten, dass viel zu viele Ärzte (das ist kein generisches Maskulinum) mit der Gesamtsituation überfordert waren. So sehr ich es verhindern möchte, weil es nicht hilft: Dazu habe ich Schuldzuweisungen im Kopf. Einige. An einige. Denn ich war laut, ich war klar in dem, was ich sagte. Aber Schuld hilft nicht. Wichtiger ist: Was ich gemacht habe, war richtig. Ich habe die Alarmglocken geschlagen, so laut, wie ich nur konnte und ich habe alle Menschen, die ich liebe, darum angefleht, mir dabei zu helfen.

Konkret hieß das, an dem Wochenende, an dem ich mein Baby nicht mehr aus eigener Kraft hochheben konnte, weil der Schmerz mich nur noch wimmern ließ, habe ich eine Liste gemacht. Sie war lang. Alle Behörden, die mir helfen konnten, alle Ärzt*innen, die mich behandelten, alle Menschen, die für meine Kinder sorgen konnten, alle meine Daten, alle Diagnosen, einfach alles. Die wichtigsten auf dieser Liste waren übrigens die Sozialarbeiterinnen im Freundeskreis und meine Stiefmutter. Sie bekamen diese Liste auch. Und die Vollmacht, alles mögliche zu tun. Ich weiß nicht genau, wie ich das gemacht habe, wo das Hirn dafür herkam, denn vor allem war ich einer Blase voller Angst. Vermutlich konnte man das hören, als ich anfing zu telefonieren.

Am Tag danach setzte die Lähmung ein. Ich habe Multiple Sklerose. Ich kenne Lähmung. Aber das war anders. Mein größter Fehler war, in diesem Moment nicht sofort den Notarzt zu rufen. Es ist schwer, das hinzuschreiben, denn es ist mein Fehler. Da ist auch bei mir selbst Schuld, wenn ich ganz genau hinsehe. Doch genauso wenig wie bei den Ärzten in dieser Zeit, darf ich auch bei mir keine Schuld suchen. Es war eben so, es ist so passiert.

Ab da bin ich mir mit den Zeitangaben nicht mehr sicher, schlage sie in den Arztbriefen nach, um nicht allzu groben Mist zu erzählen. Sicher ist, dass ich am Donnerstag in der orthopädischen Spezialklinik ankam und dass am Freitag eine Krankenschwester und eine Ärztin mich gerettet haben. Sie haben zwei Dinge getan. Festgestellt, dass meine Schmerzen nicht lapidar sind und dass meine Symptome nichts mit Multipler Sklerose zu tun haben. Es gab nur ein großes Problem: Da waren keine aktuellen Bilder meiner Wirbelsäule. Nach der Schwangerschaft, nach der Entbindung, mit so einem Baby zuhause, kann so etwas schon mal dauern. Doch ohne Bilder wäre der Chirurg quasi blind und ich war lange nicht mehr fähig mich gerade und bewegungslos in ein MRT zu legen.
Meine Retterinnen füllten meinen Körper mit Schmerz- und Beruhigungsmitteln. In diesen Stunden wurde ich inkontinent und die Feuerwehr kam, um mich mit Blaulicht in die nächste Klinik zu fahren. Da gab es ein CT, in das man mich zitternd, heulend und in Embryonalstellung geschoben hat. Da waren viele Menschen in weißen Kitteln. Sie flüsterten. Ich glaube, ich habe geredet wie ein Wasserfall, habe zwei junge Männer in Uniform vollgelabert und mein Handy umklammert, in Tshirt und Windel und immer noch heulend. Anscheinend ging es auch wieder zurück und ich sprach mit dem Chirurgen, zumindest erinnerte ich mich später an sein Gesicht. Irgendwann an diesem Tag hat man mich notoperiert.

Als ich aufwachte, war es dunkel. Ich konnte mein Bein nicht bewegen, aber ich trug auch keine Windel mehr. Neben mir lagen mein Ehering, mein Handy und ein Zylinder gefüllt mit Gewebe und meinem Namen darauf. Sie hatten es mir auf den Nachttisch gestellt. Konnten selbst kaum fassen, was sie aus mir hatten rausholen müssen. Und der einzige Schmerz, der da war, steckte unter dem riesigen Pflaster auf meinem Rücken. Drei Tage später durfte ich zum ersten Mal wieder allein ins Bad, mit einem Gehbock.

Gehbock

Und jetzt, elf Wochen danach, wovon sechs Wochen Reha waren, ohne Krücken, mit Einschränkungen, aber meistens ohne Schmerzmitteln, bin ich hier. Mit Haushaltshilfe, kann mich nicht ganz alleine um die Kinder kümmern und übe auf Privatgelände Autofahren. Manchmal habe ich Schmerzen, und oft habe ich ziemlich viel Angst. Doch jetzt geht es weiter auf eine Art, auf die ich weitermachen kann.

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