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Schmerzen sind schwierig.

Zugegeben, ich hätte nicht zur Sitzung gehen sollen. Die Schmerzen waren schon vorher da. Manchmal kommen sie einfach, mein Rücken fühlt sich dann an, als wollte er nicht mehr. Es ist irgendwas, eine Mischung von allem. Dem schwierigen Körper, den multiplen Fehlern, der schwierigen Zeit. Die Schmerzen wurden stärker. So stark, dass ich fiel. Richtig hinfiel. Dass ich heulte. Dass ich liegenblieb. Und diesmal gingen sie einfach nicht mehr weg.
Das war neu. Schmerzen, die blieben, trotz Medikation, trotz Entspannungsübungen, richtiger Lage, Ruhe und jemandem, der mir alle Arbeit abnahm und alles von mir fernhielt.
Ich habe zwei Kinder zur Welt gebracht. Aber solche Schmerzen hatte ich noch nie. Meine persönliche Skala verschob sich weit nach oben.

Die Krämpfe kamen wieder und wieder. Bevor ich mich zum Arzt fahren lassen konnte, musste ich mir die Zähne putzen, dachte ich. Mein Vater quetschte die Paste auf die Zahnbürste. Zog mir die Socken an und die Schuhe. Ich kam nicht alleine hoch, nicht alleine weiter, nicht ins Auto und nicht wieder raus – aber wer für Wehen keinen Krankenwagen braucht, die braucht sie dafür auch nicht, oder? Ich weiß nicht mehr genau, wie ich es zum Arzt schaffte.
Er zog die Brauen hoch und kniff die Lippen zusammen. Schickte mich in die Klinik und die mich mit Opiaten nach Hause. Es versuchen. Ich kannte das schon. Wenn die Notaufnahme dich nach Hause schickt, ist es oft noch nicht schlimm genug. Man darf ja wiederkommen. Jederzeit. Wenn es nicht mehr geht.

An diesen Abend hatte ich solche Angst vor den Schmerzen, dass eine Freundin mir Ronja Räubertochter vorlas, bis ich einschlief. Ich schlief zwei Stunden, bis die Schmerzen wiederkamen. Den Morgen danach fuhren wir wieder in die Klinik. Eine Klinik, die auf solche Schmerzen spezialisiert ist. Auf dem Weg habe ich die ganze Zeit nur geweint. Der Chefarzt hatte exakt denselben Gesichtausdruck wie sein Kollege vor ihm. Kritisch. Zweifelnd. Er nannte meinen Zustand erbärmlich.

Erbärmlich.

Schmerz1

Es war keine drei Monate her, dass ich mein zweites Kind bekommen hatte. Ich hatte mit irgendetwas gerechnet. Als MS-Patientin musste ich das, auf mich achten, auch um der Familie Willen. Nur mit diesem Schmerz kam ich nicht klar.
Die Klinik behielt mich eine Woche lang dort. Es war anders als sonst. Es war ja nicht so, dass jemand eine chronische Krankheit diagnostizieren wollte. Multiple Sklerose habe ich schon. Multiple Bandscheibenvorfälle auch. Den abgefahrenen Muskeltonus habe ich und alles, was damit zusammenhängt. Die Schäden sind da, ich komme eigentlich zurecht.
Aber das war neu. Das war krass. Obwohl ich Schmerzen kenne, das war anders. Ich wollte nicht mit der Vorstellung leben, diese Schmerzen würden bleiben.

Neurologischen Patienten stellt man in der Orthopädie bescheuerte Fragen. Vor allem bei einem Bandscheibenvorfall wie meinem, bei dem erstmal die Chefs gerufen werden, weil Wieso steht die noch? Aber das kenne ich auch. Dass ich diejenige bin, die immer noch steht, obwohl sie das schon lange nicht mehr kann. Besonders gut stand ich nicht mehr.
Ja, es kribbelt, ja, es ist taub, ja, manchmal bin ich schwach. Das hat aber alles nichts zu sagen. Kein Grund, mich direkt aufzuschneiden. Deswegen wurde ich keine OP-Patientin. Ich wurde Schmerzpatientin. Seltsames Gefühl.

Schmerzen unter der Beteiligung von Bandscheibenproblemen werden auf viele Arten behandelt. Physiotherapie, Medizinische Trainingstherapie, Bewegungstraining, Bewegungsbäder, Massagen, Elektrotherapie, Entspannungstherapie, Wirbelsäulengymnastik. Und Spritzen. Cortison und Betäubungsmittel werden direkt in den Peridualraum injiziert. Das ist nicht ganz ungefährlich und je nach Stelle und Empfindlichkeit ziemlich schmerzhaft. Bei einer der Schwestern habe ich mich entschuldigt. Ihre Hand wirkte so zerquetscht. Den Rest habe ich schweigend – und manchmal weinend – ertragen. Insgesamt fünf Injektionen bekam ich in sechs Tagen. Und so viel Therapie wie in einer Reha. Es tat gut. Es gab dort nette Menschen, interessante Menschen, tolles Personal und den ganzen Tag vermisste ich mein Baby. Mit Mann und Kind konnte ich telefonieren. Doch mein Neugeborenes nicht anfassen zu können, das hat mich fertig gemacht. Ich zerging vor Sehnsucht nach meiner Familie.

Schmerzen sind schwierig. Unter Therapie muss man lange nüchtern bleiben und darf viele Stunden nicht aufstehen. Auf einer Station mit dreißig Personen, von denen die Hälfte so behandelt wird und für die genau eine einzige Krankenpflegerin zuständig ist… das System macht es noch schwieriger. Ich habe einen unermeßlichen Respekt vor dem Personal dort.

Nach einer Woche konnte ich gerade stehen, hatte wenig Schmerzen, wenig genug zumindest, um klarzukommen, um entlassen zu werden, für Aufbautraining und Alltag. Für beinahe einen Monat.
Von der Episode, die darauf folgte, den Schmerzen, die noch schlimmer waren, dem Notfall, der Operation in der Nacht und allem anderen, schreibe ich beim nächsten Mal.

Es muss immer noch sacken.

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